DER NARR
aus "Vom Narren zum Erleuchteten" aus dem Buch "MISTERIUM TAROT" von Alla Alicja Chrzanowska

Es gibt immer "irgendeinen" Anfang.
Es war einmal vor vielen Jahrhunderten auf der Erde ein Mensch: nackt, wehrlos, enthüllt und einsam. Alles entsetzte ihn. Es schien ihm, als lauerte etwas auf ihn, an jedem Ort, um jede Zeit, und er fand keinerlei Methode noch Art, mit deren Hilfe er sich verteidigen könnte. Die Gefahr schlich ihm überall nach, so empfand er es jedenfalls. Sein Leben konzentrierte sich auf das Überleben, und Feinde hatte er eine riesige Anzahl: wilde, hungrige Tiere, die ihn jagten, die Kälte, die Krankheiten herbeitrug, sowie die Hitze, die dasselbe verursachte, fehlende Nahrung, die unter Lebensgefahr erkämpft werden musste und die Kräfte der Natur, die zu lebendig erschienen und in entsetzlicher Art und Weise seinen Schutz zerstörten, ja sogar das Leben. Er konnte von nirgendwo Hilfe erwarten, nicht einmal von seinen Stammesbrüdern, die ebenso machtlos und der Unsicherheit preisgegeben waren wie er.
Da schlägt der Blitz in den Baum neben der Höhle ein, der bis dahin vor wilden Tieren schützte und Schatten an heißen Tagen spendete. Die Flammen wuchsen und verschlangen in Begleitung von merkwürdigen Geräuschen und Knistern das Gefühl der Sicherheit sowie alles Bekannte und Gewohnte; sie loderten auf, wenn jemand sich ihnen zu nähern mühte. Sie fügten physischen und psychischen Schmerz zu, sie waren etwas Unbekanntes und deshalb Fürchterliches.
Plötzlich beginnt sich aus dem üblicherweise sonnige Wärme oder Mondschein tragenden Himmel Wasser zu ergießen, immer mehr und mehr. Aus den Wolken flossen ganze Bäche, begleitet vom Grollen des Donners und, noch viel entsetzlicher, vom Aufleuchten der Blitze. Obwohl noch der Tag andauert, umschloss Dämmerung die Welt. Die brennende Fackel des Baumes beginnt zu verlöschen, begleitet von einem Kampf - die Flammen zischen, die geschwärzten Äste des Baumes biegen sich, und das Wasser vermehrte sich: das Feuer wurde besiegt, aber das gab dem Menschen nicht das Sicherheitsgefühl zurück, sieht er doch, wie aus dem Flüsschen, aus dem er täglich Wasser trank und sich an heißen Tagen abzukühlen suchte, ein Sturzbach wird, der nun schon bis zum Höhleneingang reicht. Es gilt zu fliehen. Das Wasser überschwemmt den derzeitigen Unterschlupf.
Die Angst wandelt sich in Entsetzen: wohin soll ich gehen, wenn überall Dunkelheit ist und die wieder und wieder aufleuchtenden Blitze in ihrem geisterhaften Schein einzig Gefahr anzeigen, besonders, da zusätzlich ein gewaltiger Sturmwind losbricht, der sowohl Bäume als auch Menschen auf die Erde niederdrückt, dessen Kühle sich durch Mark und Bein bohrt, er den erbärmlich bedeckten Körper schuuml;ttelt und ihn erschauern ließ. Zu allem Unglück beginnt der bis dahin harte Grund unter den Füßen zu beben, die Erde schwankt. Von nirgendwoher kann man Hilfe erhoffen. Das Beben der Erde verstärkt sich, aus ihrem Innern dringt dumpfes Gepolter hervor. Der Mensch fühlt, dass das das Ende ist. Die Erde tut sich mit einem Getöse auf und er fällt ins Unbekannte. Die entfesselten Elemente malträtieren ihn, doch dies spürt er schon nicht mehr, er verlor - im Fallen - das Bewusstsein.
Als er morgens, der ganze Körper schmerzte ihm, zu Bewusstsein kam, hatte sich seine Welt zur Unkenntlichkeit verändert. Anstelle der Höhle, die bisher sein Haus war, blieb nur ein Haufen Steine und der Fluss hatte fast vollständig seinen Lauf verändert, seine Ufer wurden abschüssig, das Wasser in ihm - trüb, und dort, wo bisher ein kleines Inselchen war, staute sich ein mächtiger Wasserfall. Einzig Windbruch erfüllte ringsherum die Umgebung und über dem Ganzen erhoben sich Dämpfe aus den verglimmenden Brandstätten. Überall wimmelte es von Leichen der während des Kataklismus erschlagenen Tiere. Alles sah entsetzlich aus, die Angst war physisch fast greifbar.
Der Mensch spürte, dass er hier nicht bleiben kann, dass ihm nach wie vor Gefahr droht und so wurde die Intuition geboren, sie hatte viel gemein mit dem Instinkt, von dem sich Tiere leiten lassen. Der Urmensch nutzte sie und dank ihrer überlebte er, bis die Zivilisation sie als etwas Schlimmeres als den Intellekt wähnte, weshalb der moderne Mensch nur schwer Bedrohungen auszuweichen in der Lage ist. So befahl die Intuition jenem Ärmsten aufzustehen und zu gehen, obwohl der Körper den Dienst versagte, ihn die blaugeschlagenen Beine nicht tragen wollten, die Wunden bluteten und die gebrochenen Rippen schmerzten. Dennoch zwang sich der Narr dazu aufzustehen und sich auf den Weg zu begeben.
Mit Mühe gelang es ihm, den bedrohlichen Ort zu verlassen und einen vorübergehenden Schutz in der Höhle des in der Gegend einzigen erhaltenen Baumes zu finden. Am Platz seines vorherigen Aufenthaltsortes erschienen wilde, Futter suchende Tiere. Sie wirkten bedrohlich und gereizt. Sie versuchten, seine Spur auszuschnüffeln. Er wusste, dass hierzubleiben gefährlich ist. Man musste einen neuen Schutz suchen, einen Ort, an dem er leben könnte. Sobald sich die Tiere an den herumliegenden Kadavern sattgefressen haben, verließ der Narr seinen Schutz und begab sich auf unsicherem Wege ins Unbekannte, mit all seinem Hab und Gut, der winzigen Erfahrung, die er bis zu diesem Zeitpunkt erlangen konnte und dem naiven, an Unbekümmertheit grenzenden Glauben, dass jetzt schon alles gut werde.
Auf seiner Wanderung sah er die Schönheit der Welt, Nester bauende Vögel, Tiere, die sich um ihre Kleinen kümmerten und sorglos auf der blumenbedeckten Wiese spielten, üppig wachsende Pflanzen und mächtige, grüne Bäume und er sah in ihnen kein Objekt des Entsetzens, das er vor kurzem selbst durchlebte. Das brachte ihn zum Nachdenken. Er spürte, dass das Leben an sich bedeutend mächtiger ist als die Elemente. Er wollte wissen, warum. Er wollte immer mehr wissen. Er verstand, dass nur das Erkennen der ihn umgebenden Welt ihm in Zukunft erlaubt, diesen Gefahren auszuweichen, an denen er vor kurzem teilhatte. So begann er, genauer auf das hinzuschauen, woran er auf seiner Wanderung vorbeizog, er beobachtete, wie sich die Tiere in schwierigen Situationen helfen, manchmal nutzte er sogar die Methoden, die von Pflanzen angewandt wurden, und langsam lernte er, wie die ihm drohenden Gefahren zu umgehen sind und wie man schwierige Situationen übersteht. Systematisch begann er Erfahrungen zu sammeln und obwohl er viele Dinge noch nicht verstand, und andere nicht zu benennen wusste, ja manches noch nicht einmal wahrnahm, vergaß er nichts, alles sammelte er rührig in seinen Wandersack. Es beunruhigte ihn freilich das, was er nicht imstande war zu begreifen, aber er hielt nicht ein in seiner Wanderung, die ihn zum Erkennen der die Welt regierenden Mechanismen führte, immer schritt er voran, zur Erweiterung seines Wissens, weil er verstand, dass er ein Narr ist, der erst den Ort kennenlernt, an dem es ihm zu leben möglich wird und er begriff, dass irgendwo eine große Klugheit ist, die er kennenzulernen und zu besitzen wünschte. Dieser Wunsch war so stark, dass er seinen Weg weiterverfolgte, obwohl ihm nach wie vor viele Schwierigkeiten und Gefahren drohten. Er blieb nicht stehen bei seiner mühevollen Sammlung von Wissen und Erfahrungen. Genau diese Entschlossenheit erlaubte es ihm, sich vom NARREN in den MAGIER zu verwandeln.



Text©Alla Alicja Chrzanowska